Todos Santos

Allerheiligen, oder auch « Día de Todos los Santos“ (kurz Todos Santos), wie man hier sagt.
Für mich war das bisher nie ein wirklich besonderer oder emotionaler Tag. Die häufigsten Gebete, die ich normalerweise am 1. November gebetet habe, waren wohl Stoßgebete zum Himmel, damit das Wetter bei der Gräbersegnung auch hält. Die Tage vorher waren geprägt von Kürbisschnitzen und den unterschiedlichsten Abwägungen, wo und wie man jetzt am besten Halloween feiert.
Aber wie bereits bekannt ist, bin ich dieses Jahr nicht Zuhause in Deutschland, sondern in El Alto, Bolivien, und hier ist Todos Santos eine etwas andere Hausnummer!

Kurz ein bisschen zur allgemeinen Erläuterung: Wenn hier in Bolivien jemand verstirbt, wird in den folgenden drei Jahren jedes Mal an Todos Santos eine „mesa“ (Spanisch = Tisch) vorbereitet. Diese mesas sind mit Stoffen ausgelegt (weiß für verstorbene Kinder und Jugendliche, schwarz für Erwachsene), ein Foto des Verstorbenen wird aufgestellt und der restliche Tisch wird mit Gebäck, Süßigkeiten, Obst, Blumen, den unterschiedlichsten Symbolen oder symbolträchtigen Dingen und anderen Elementen gefüllt, die der Verstorbene gerne hatte (also zB. auch Zigaretten, Coca, Bier oder Milchreis). Es herrscht der Glaube, dass der Geist des Verstorbenen vom 1. November um 12 Uhr mittags bis zum darauffolgenden Tag zur selben Uhrzeit auf die Erde kommt, um Zeit mit der Familie zu verbringen. Viele dieser Geister, so wurde mir erklärt, kommen in Form von Fliegen oder anderen Insekten, da man diese oft in der Nähe der aufgestellten Leckereien sieht. Wer also an diesen Tagen glaubt, hier mit einer Fliegenklatsche auf Jagd gehen zu müssen, muss mit unverzüglicher Exekution durch Blicke rechnen. Der Umfang der mesa hängt etwas davon ab, wann die jeweilige Person verstorben ist, doch egal in welchem Jahr man sich befindet, Essen scheint glaube ich immer en masse da zu sein! Der 1. Und 2. November wird aber nicht allein im Familienkreis gefeiert, es werden eine Unmenge Freunde und Verwandte eingeladen, um mit zu beten, zu reden, zu essen und zu tanzen (irgendwer muss schließlich auch das ganze Gebäck essen!). Am 2. November wird, nachdem der Geist wieder verabschiedet wurde, das gesamt Essen auf der mesa unter allen Anwesenden aufgeteilt, sodass niemand leer ausgeht. Nehmen wir mal an, man selber hatte in den letzten drei Jahren keinen Todesfall in der Familie, von zwei Freunden ist allerdings ein Elternteil gestorben und auch der Nachbar hatte einen Todesfall zu beklagen. Geht man nun als guter Freund und Nachbar zu jeder einzelnen Feier und betet mit den Angehörigen, man muss den gesamten nächsten Monat kein Brot kaufen!
Die Familie unter sich geht außerdem noch zum Friedhof, hinterlässt dort Blumen und eventuell auch Gebäck und gedenkt nochmal im Besonderen des Verstorbenen.

Nun aber zu meinen persönlichen Erfahrungen mit diesem für mich sehr besonderen Fest! Da vor knapp zwei Jahren mein Gastopa verstorben ist, befindet sich meine Familie mitten in den drei Jahren, in denen Todos Santos in großem Rahmen gefeiert wird. Schon eine Woche vorher war unsere Küche nicht mehr wiederzuerkennen. Überall standen Kartons mit Brot, Kuchen, Donuts, Keksen und anderen Leckereien herum, dauernd musste überlegt werden, was noch fehlte oder gekauft werden musste oder wie man nun die Möbel im Wohnzimmer am besten umstellt, um den meisten Platz zu schaffen und auch im Kürmi lief vieles etwas anders, da viele Kinder nicht kamen um Zuhause beim Backen zu helfen.

Am Donnerstag, dem 30.10, haben wir im Kürmi mit den Kindern zusammen auch ein mesa vorbereitet. Jedes Kind sollte etwas von Zuhause mitbringen, um es auf der mesa zu platzieren und wir haben zusammen für alle Verstorbenen aus dem Umfeld der Kinder gebetet und gesungen. So habe ich schon mal einen ersten Eindruck von Todos Santos in Bolivien und die ersten kleinen Erklärungen erhalten. Auch im Kürmi haben wir am Ende das gesamte Essen unter den Anwesenden aufgeteilt, was finde ich eine sehr schöne Geste ist. Leider gab es unglaublich viel Süßkram zu verteilen, dementsprechend schwer war es im Anschluss die Kinder für das Mittagessen zu begeistern, aber es war ja ein einmaliges Ereignis. So habe ich also schon am Donnerstag wie ein waschechter Bolivianer meine Plastiktüte mit Gebäck und Obst mit nach Hause genommen, unwissend, dass dies in Anbetracht der nächsten Tage eine verschwindet geringe Menge an Essen war.

Freitag musste ich nicht zur Arbeit, da wir im Kürmi den Tag als frei erklärt haben, viele Kinder wären wegen Vorbereitungen Zuhause sowieso nicht gekommen. So konnte auch ich dann den ganzen Tag Zuhause helfen, schließlich musste unser Wohnzimmer noch Todos-Santos-reif gemacht werden. Zusammen mit meinen Gastbrüdern habe ich also Tische gerückt, Stühle hin und her getragen, Sofas umgestellt und versucht, sämtliche Vorstellungen und Wünsche meiner Gastoma gleichzeitig umzusetzen. Gegen zehn Uhr abends waren wir mit dem gröbsten fertig, sodass am nächsten Tag nur noch das restliche Essen aufgestellt und die Kerzen angezündet werden mussten.

Auch der Samstag war noch recht entspannt und von Vorbereitungen geprägt. Morgens kam Maike mit der flota aus Sucre an, da wir dieses Wochenende gemeinsam ein traditionell bolivianisches Todos Santos miterleben wollten. Bis mittags um zwölf haben wir dann die unterschiedlichsten Gerichte in Small-Version gekocht und zusammen mit Keksen, Kuchen, Obst, Wasser und Café auf dem Tisch verteilt. Ich habe mir große Mühe gegeben, jedes Detail mit meiner Kamera festzuhalten und bei der Fülle an Symbolen keine Erklärung zu verwechseln, aber ein wirklicher Durchblick fehlt mir glaube ich immer noch. Nichtsdestotrotz, hier eine Erläuterung der wichtigsten Symbole „unserer“ mesa:
1. T’antawawas: T’antawawas kann man sich so ähnlich wie Weckmänner vorstellen. Sie verkörpern die verstorbenen Personen, es gibt also sowohl weibliche als auch männliche Figuren, die auch genau zugeordnet werden. Diese werden dann ziemlich zentral auf der mesa platziert.
2. Leitern (aus Zucker oder auch Teig): Die Leitern sind dafür da, dass der Geist des Verstorbenen auf die Erde kommen und am nächsten Tag auch wieder zurück in den Himmel steigen kann.
3. Sonne und Mond aus Teig (sahen für mich zuerst allerdings aus wie Räder): Diese symbolisieren Tag und Nacht und werden auf beiden Seiten der mesa platziert.
4. Jesus am Kreuz: Das war mal ein Symbol, was ich sofort erkannt habe. Für mich stellt es aber auch sehr schön die Mischung aus indigenen Traditionen und Symbolen und den christlichen Einflüssen seit der Eroberung dar.
5. Esel oder auch Pferd, da waren sie sich nicht wirklich einig (auch aus Hefeteig): Da Esel Lasttiere sind, hilft dieses Tier dem Verstorbenen alle Dinge, die die Familie auf der mesa platziert haben, zu transportieren.
6. Zwiebeln: Die passten für mich irgendwie nicht ganz in das Bild, stehen aber, wie mir dann auf Nachfrage erklärt wurde, für das Wasser für den Verstorbenen.
7. Zuckerrohr: Die langen Stäbe aus Zuckerrohr sollen dem Verstorbenen als eine Art Gehstock dienen, dieses Jahr hatten wir allerdings keine Zuhause, da meine Oma der Meinung war, die, die wir auf dem Markt gefunden hatten, seien zu teuer.
8. Essen und Trinken: Auf den Tisch kommt nur, was der Verstorbene auch gemocht hat. Bei uns gab es unter anderem eine Flasche Bier und eine Tasse Kaffee, Reis, Tortilla und Ananas, bei anderen kann auch gut ein Glas Rotwein oder auch Salat dabei gewesen sein.
9. Ketten aus Pasancallas: Pasancallas kann man sich in etwa wie Popcorn vorstellen, nur etwas größer. Sie sind typisch für La Paz und deswegen in quasi jeder mesa hier zu finden. Mit meinen Gastbrüdern zusammen habe ich mit Nadel und Faden stundenlang Ketten aus Pasancallas gemacht, um diese dann rund um die mesa aufzuhängen. Eine wirkliche Bedeutung haben diese Ketten nicht, allerdings schmecken Pasancallas erstens quasi jedem hier und sind zweitens, da sie bunt sind, nicht ungeeignet zum schmücken.
10. Blumen: Auch die Blumen haben keine tiefer gehende Bedeutung, dürfen aber trotzdem nicht fehlen. Erstens als Dekoration, zweitens werden die schönsten aber meistens nach der Feier auch zum Friedhof mitgenommen und dort aufgestellt.

Ich glaube, jetzt habt ihr einen ersten Überblick über unsere mesa, vielleicht erkennt ihr ja ein paar Dinge auf dem Foto wieder!

Um Punkt zwölf waren dann alle Vorbereitungen abgeschlossen und wir haben uns alle um die mesa herum versammelt und für jeden einzelnen Verstorbenen (es gab nicht nur einen T’antawawa für meinen Gastopa, sondern auch welche für sein Eltern, einen verstorbenen Bruder, etc.) ein Vater Unser und ein Ave Maria gebetet. Ich hatte anfänglich noch Probleme mitzukommen, nicht weil ich die Gebete grundsätzlich nicht kennen würde, ich hatte sie nur in einer anderen Sprache im Kopf, nachdem wir dann aber die gesamte Familie durch hatten, war auch ich quasi textsicher.
Den restlichen Tag haben wir dann mit Filme gucken, erzählen, einkaufen und weiteren Vorbereitungen für den kommenden Tag verbracht. Maike und ich haben kleine Schälchen mit den unterschiedlichen Dingen gepackt, die wir gebacken hatten, um diese am nächsten Tag in der Kirche an Freunde und Bekannte zu verschenken. Gegen Abend kamen  noch zwei befreundete Familien zu Besuch, da die eigentliche Feier allerdings am nächsten Tag stattgefunden hat, wurde nur ein wenig erzählt und zusammen gesessen.


Und dann war es auch schon Sonntag, der 2.11, für mich der Höhepunkt dieses Todos Santos.
Früh aufstehen war angesagt, da vor der Messe noch das Mittagessen gekocht werden musste. Nachdem auch alle gegen kurz vor zehn endlich in ihren Jacken steckten haben wir uns im Eilschritt auf den Weg zur Kirche gemacht, wäre aber gar nicht nötig gewesen, nach bolivianischer Art fing die Messe mindestens 15 Minuten zu spät an. Die Messe an sich war wirklich schön, leider können hier alle die Lieder auswendig, sodass es keine Liederbücher zum mitsingen gab, trotzdem habe ich mich irgendwie wohl gefühlt, viele Elemente waren dann doch wie Zuhause.
Nach der Messe ging es leider im Regen wieder nach Hause, dort sind wir aber schnell wieder getrocknet. Um zwölf Uhr mittags war es dann an der Zeit, den Geist für dieses Jahr zu verabschieden. Dafür haben wir in der Küche die gekochten Speisen, die auf der mesa standen, verbrannt. Danach wurden auch die Kerzen auf der mesa ausgemacht, da der Verstorbene ja nun nicht mehr da war.

Zwischen ein und vier Uhr nachmittags kamen dann peu à peu sämtliche Gäste, die sich vorher mündlich angemeldet hatten (und sogar noch ein paar mehr). Das Haus war also voll, es gab viel zu erzählen und natürlich zu essen. Auch der erste Wein (allerdings gemischt mit 7-Up) wurde ausgeschenkt und alte Geschichten ausgepackt. Nachdem jeder Gast sein Mittagessen verspeist hatte, ging es daran, die mesa aufzulösen. Diese Aufgabe hat ein befreundetes Ehepaar übernommen. Zuerst wurde noch einmal mit allen zusammen für den Verstorbenen, aber auch die gesamte Familie gebetet, und danach ging es ans Eingemachte. Alles, was auf der mesa stand, wurde unter den Anwesenden verteilt. Ich finde das eine sehr schöne Tradition, wie auch schon im Kürmi, und es waren wirklich leckere Dinge dabei! Unter den Erwachsenen ging nicht nur einmal das Bier-/ Weinglas rund und auch die Kinder hatten ihren Gefallen an den ganzen Süßigkeiten. Maike und ich haben sogar beide einen T’antawawa geschenkt bekommen und wurden auch gleich in die große Kunst des Kinder-in-Tüchern-auf-dem-Rücken-tragens eingeführt. Hier in Bolivien sieht man ja fast keine Kinderwagen, die Kinder werden einfach in Tüchern auf dem Rücken getragen, und so durften Maike und ich den gesamten Nachmittag mit unseren neuen wawas (Aymara = Baby) auf dem Rücken verbringen. Ich fand das eine ziemlich lustige Erfahrung, wenn ich allerdings daran denke, dass die Frauen hier auch zweijährige Kinder stundenlang in solchen Tüchern über die Märkte tragen, war ich doch froh, dass mein Kind nur aus Teig bestand und vielleicht grade mal die 30 Zentimeter geknackt hatte.

Als dann endlich alles Essen und Trinken aufgeteilt oder bereits vernichtet war, wurde getanzt. Meine Gastoma, die öfters mal über Knieprobleme klagt, war dabei vollkommen in ihrem Element. Wie ausgewechselt war sie gar nicht mehr von der Tanzfläche zu bekommen und hat schlussendlich auch versucht, mir Cueca, ein traditioneller Tanz aus Tarija, beizubringen, ich brauche aber glaube ich noch etwas mehr Übung. Trotzdem hat das super viel Spaß gemacht, es herrschte überhaupt keine traurige Stimmung, wie man es vielleicht bei einem Fest zum Gedenken an die Toten erwarten könnte. Jeder war auf den Beinen, es wurde mitgesungen und geklatscht und nicht wenige Gläser Wein und Bier eliminiert.
Gegen sechs, als bei uns die Feier langsam zu Ende ging, sind wir einfach mit dem Rest der Gäste zusammen zu einem Freund der Familie gefahren, bei dem Zuhause ebenfalls gefeiert wurde. Da sie aber auch da als wir ankamen bereits mit tanzen fertig waren, wurden wir mit Brot  von der dortigen mesa und noch mehr alkoholischen Getränken versorgt. Etwas angeheitert haben Maike, meine Gastmutter und ich dann leider erfolglos auf dem Heimweg nach Pizza gesucht und mussten uns dann Zuhause mit Brot zufrieden geben, davon haben wir allerdings so viel, dass wir das kaum alles selber essen können (und die Gäste haben ja jeder schon eine volle Tüte mitgenommen!).
Das Aufräumen und Putzen haben wir dann einstimmig auf den nächsten Tag verlegt.

Am Montag, nach nicht viel, aber zumindest ausreichend Schlaf, wurde das Wohnzimmer wieder in seinen Ausgangszustand von vor Todos Santos zurückgeführt. Am späten Vormittag sind wir gemeinsam runter nach La Paz zum Friedhof gefahren, um auf dem Friedhof Blumen aufzustellen. Die Friedhöfe sind hier ja grundsätzlich etwas anders aufgebaut als in Deutschland, da ich aber bereits einmal dort war haben mich anstatt der „Grabwände“ viel mehr die Menschen auf dem Friedhof fasziniert. Für Todos Santos reisen viele Menschen vom Land in die Stadt, weswegen an nicht wenigen Gräbern ausschließlich Aymara gesprochen wurde. Außerdem gab es eine Unmenge von Musikern oder auch anderen Leuten, die von Grab zu Grab gezogen sind und bei Interesse gegen Bezahlung für dich gesungen oder gebetet haben. Die Musiker konnte ich irgendwie noch nachvollziehen, „bezahlte Beter“ waren für mich allerdings erstens vollkommen unbekannt und zweitens auch eine sehr seltsame Art, sich Geld dazu zuverdienen, aber hier scheint das etwas Alltägliches zu sein. Nachdem das Grab dann hergerichtet war, hat meine Familie sich wieder auf den Heimweg gemacht, Maike und ich haben den restlichen Tag noch in La Paz verbracht.

Jetzt hat wieder der Alltag begonnen und nichts scheint mehr an das vergangene Fest zu erinnern. Naja, fast nichts. In der Küche stehen immer noch Kekse und anderes Gebäck herum, ich habe einen Haufen neuer Fotos und Erinnerungen und natürlich einen T’antawawa in meinem Zimmer. Ich kann es einfach nicht übers Herz bringen, ihn bzw. sie zu essen, dafür macht sie sich viel zu gut neben meiner Diabladamaske in meiner „Trophäensammlung“ der kulturellen Besonderheiten Boliviens.

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Kommentare: 2
  • #1

    Oma (Sonntag, 09 November 2014 11:31)

    Deine Berichte sind so toll. Wenn man sie liest erkennt man
    Dein Interesse und die Freude in diesem Land zu sein und Neues zu erleben.

  • #2

    Neumann, Leverkusen (Samstag, 15 November 2014 10:56)

    Hallo Frau Kube,
    die in ihrem Bericht beschriebene Feier fuer die Toten weist darauf hin, dass die Versorbenen sehr beliebte Menschen gewesen sein muessen. Man kann sich direkt hineinversetzen in ihr Erlebnis. Es ist auch offensichtlich, dass sie sich sehr wohl in der Familie und mit ihrer Aufgabe fuehlen. Bravo fuer ihren Einsatz.
    Der "Deckenbericht" und der dazugehörige Kommentar ihrer Mutter ist "verschmitzt".
    Einen lieben Gruß von den ihnen unbekannten Neumanns aus Schlebusch.